Die Aufgabe

Wir wälzen. Vor uns der Gipfel. Wir sind keine Opfer unserer Verhältnisse, wir sind Subjekte! Unsere Strafe ist keine Strafe. Wir wälzen. Vor uns der Gipfel. Wir wollen das. Wir führen ein selbstbestimmtes Leben. Wir verantworten uns vor uns selbst. Wir sind selbstverantwortlich. Wir haben uns Freiheiten genommen, widersprochen. Und das auch noch performativ. Klar hat das Folgen. Wir würden auch jederzeit wieder rebellieren. Und versuchen, den Tod zu überlisten. Wir wälzen. Vor uns der Gipfel. Wir blicken nur nach vorne, nie zurück. Sowieso ist unsere Geschichte unübersichtlich. Unsere Geschichte speist sich aus vielen Quellen. Wir wälzen. Man muss sich uns als glückliche Menschen vorstellen. Meint wenigstens Camus. Wir sind die Stifter der isthmischen Spiele, sind die weisesten und klügsten unter den Sterblichen. Meint immerhin Homer, das ist nicht irgendwer. Wir wälzen. Vor uns der Gipfel. Gelegentlich sind wir auch Straßenräuber gewesen, okay. Gelegenheit macht Diebe. Wir sind die Proleten der Götter. Also solche werden wir gebraucht. Als solche sind wir nützlich. Die Götter arbeiten, also arbeiten auch wir. So sind wir Helden, wenigstens. Wir wälzen, aber wir wälzen nicht um. Vielmehr: Wir fügen uns in jede Umwälzung ein. Wir fangen immer wieder an. Wir fangen immer wieder von vorne an. Und genießen die Wärme hier in der Unterwelt. Wir nehmen unsere Strafe in Kauf. Und das gelegentlich auch ohne Lohn. Wir haben unsere Selbstbestrafung zu unserer Aufgabe gemacht. Wir sind unsere Aufgabe. Wir sind unsere Überaufgabe. Meint auch der Stanislawski. Und wir geben niemals auf. Wir bewerkstelligen. Obwohl wir immer wieder bei Null anfangen. Wir sind die, die den Stein ins Rollen bringen. Mit ihm wollen wir auf den Gipfel. Auch wenn wir es sowieso nicht bis dahin schaffen. Dennoch sind wir motiviert. Unser Stein ist unser Stresstest. Wir sind intrinsisch motiviert. Wir wollen das. Wir haben Potential. Den Stein hochzukriegen versuchen, ist Belohnung genug. Rollt er hinab, freuen wir uns auf den Neustart. Wir balancieren Aufgabe und Leben nicht aus. Zu Balancieren ist unsere Lebensaufgabe. Wir wollen das. Wir sind engagiert. Wir wälzen Probleme. Vor uns der Gipfel. Wir wollen das Anormale. Wir engagieren uns bei uns selbst. Wir bringen alle persönlichen Ressourcen zum Einsatz. Wir schöpfen auch aus dem Nichts. Wir sind virtuos. Wir sind High Performer. Wir wälzen nicht um, aber wir bewältigen. Und wir überwältigen. Wir sind eine Gewalt. Jedoch keine Naturgewalt. Die nämlich kann nicht anders. Wir sind künstlich. Wir können so, aber auch anders. Unsere Gewalt hat Inhalt. Unser Inhalt hat Gewicht. So wie der Stein. Deshalb ist uns Gewichtigkeit Gehalt genug. Wir sind wichtig und das reicht. Vor uns der Gipfel, stellen wir doch geringe Ansprüche. Wir pflegen einen bescheidenen Lebensstil. Wir wollen das. Unsere Aufgabe ist Leben genug. Wir bescheiden uns mit unserem Stein. Unser Schweiß-Gesicht so nah am Stein, werden wir selbst zum Stein. Den Stein beinahe schon am Gipfel, werden wir selbst zum Gipfel. Rollt der Stein ins Tal zurück, werden wir auch das. Wir sind die Null und die Eins. Die Amplitude, die Wiederholung, die Frequenz. Wir drehen uns im Kreis. Wir zirkulieren. Wir zirkulieren. Wir zirkulieren. Man erzählt sich uns, also sind wir. Wir sind das Gesetz jeder Erzählung, sind Aufstieg und Abstieg. Wir sind ein well-made-play. Aber keine Normalbiographie! Das Anormale ist unsere Norm. Wir wollen das. Wir sind die Peripetie, die Wende, das Paradox. Wir sind der erste, zweite und dritte Akt. Wir wälzen und wälzen und wälzen. Wir haben Lust aufs Handeln. Wir handeln mit Fiktionen. Wir sind unsere Handlung. Wir handeln mit uns selbst. Unsere Aufgabe ist absurd, aber nicht ohne Sinn. Unsere Aufgabe ist tragisch. Wir sind stark, obwohl wir nie zum Ende kommen. Unser Stein ist unsere selbstgewählte Strafe. Wir wollen das für uns alleine. Das ist nur unsere Sache. Wir machen unser Ding. Wer uns fragt, dem sagen wir: Wir kommen über die Runden. Wir regenerieren stets aus eigener Kraft. Unser Körper macht keine Probleme. Auch wenn er an den Stein gefesselt ist. Unser Geist nämlich ist frei. Er zirkuliert ganz frei im Raum. Unser Geist ist unser Kapital, mehr noch, als unser Körper. Wir sind Fiktion. Die Aufgabe erst macht uns real. Die Strafe erst befreit uns. Wir wälzen. Und wir wollen das. Wir sind besessen. Wir sind Sisyphos.

[Der Text ist eine Deleted Scene aus ICH FINDE ES GUT, DASS IM THEATER ALLE UMSONST ARBEITEN. DA IST MAN DOCH GERNE DABEI.]


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