Kritik der „Kritik der vernetzten Vernunft“

Philosophie sei eine Brille, durch die wir anders auf die Welt schauen, hat einmal jemand gesagt. Ich weiß nur nicht mehr, wer. Aber die „philosophische Brille“ ist ja auch so schon bekanntes Schlagwort. Jörg Friedrichs „Kritik der vernetzten Vernunft“ jedenfalls ist es viel darum, uns die Gläser ein wenig schärfer zu schleifen. Versuche ich also einmal die „vernetzte Vernunft“ zurate zu ziehen und z. B. bei Google die Stichworte „Philosophie“ und „Brille“ einzugeben, in der Hoffnung, den Autor meines Zitats zu finden – sind wir mitten im Thema. Denn was mir Google, das mir doch eigentlich die Maschen meines Argumentationsnetzes enger stricken helfen sollte, serviert, ist: die reale Wildnis des chaotischen „Web“.

Aber von vorne: Der Autor stellt seinem Buch ein paar Vorbemerkungen voran, die sich bereits vor dem Kauf zu lesen lohnen. Besonders computerfritzig, wie das Cover und die kleinen Comics im Inneren andeuten (und Artikel des Autors auf telepolis auch ein wenig vermuten ließen), geht es hier nämlich nicht zu. Vielmehr gibt es eine Art „Grundkurs“ darin, Wissen, Handeln und Hoffen/Wollen unserer vernetzten Vernunft genauer in den Blick zu nehmen. Wobei Friedrich das Vernetztsein eben grundsätzlich zwischenmenschlich denn „nur“ internetspezifisch denkt. So gibt kein geringerer als Kant, auf dessen Kritik der reinen Vernunft, praktischen Vernunft und Urteilskraft der Titel anspielt, die zentralen Arbeitsfragen vor. Indes braucht niemand Angst zu haben, es auch mit entsprechenden Sprachungetümen zu tun zu kriegen. Immer klar in den Formulierungen versteht es der Autor, uns anhand einfacher Alltagsbeispiele seinen konstruktivistischen Blickwinkel nahezubringen.
Wer schon ein wenig tiefer in der Materie steckt, etwa ein paar der erwähnten Sekundärtexte von Latour oder Deleuze/Guattari kennt, der wird allerdings auch Durststrecken zu überwinden haben. Zielpublikum scheinen nämlich vor allem diejenigen „Netzbewohner“ zu sein, die nach ein wenig Orientierung in dem ganzen Gestrüpp suchen, ohne bereits komplett in den „Netizen“- oder Universitätsdiskursen versumpft zu sein. Oder um sich eben da einmal rauszuziehen. In jedem Fall kein leichter Spagat, der eben auch zu Irritationen führt – mir selbst gerade darum sympathisch. Netizens jedenfalls werden Geduld aufbringen müssen, bis endlich einmal ein paar Modewörter wie „Transparenz“ oder „Netzpolitik“ fallen, philosophisch Bewanderte sich vermutlich daran stoßen, dass es, wenn es richtig spannend-diskutabel wird, dem Fokus des Buches gemäß oftmals nicht weiter in die Tiefe geht.

Unzureichend finde ich Friedrichs Definition der Kunst, die ihre Wirklichkeit mit maximaler Künstlichkeit im Sinne einer „ganz und gar geordneten Welt“ gleichsetzt. Hier will ich ergänzend nur Christoph Menkes „Die Souveränität der Kunst“ erwähnen. Im Rückgriff auf Derrida und Adorno wird darin deutlich, dass Kunst, bei (oder gerade wegen) aller formalen eigenweltlichen „Künstlichkeit“ im Gegenteil immer zugleich auch den Blick auf die ungeordnete, abgründige, vorsprachliche „wilde“ Realität hin mit öffnet. Und nicht nur den Blick, sondern eben auch die Erfahrung derselben. Die mich dann auch wieder auf meine Leiblichkeit verweist.
Weiterhin ist Künstlichkeit auch keineswegs bloß der End- oder Höhepunkt in einer evolutionäre Teleologie suggerierenden Reihe Wildnis, Natur, Kultur. Vielmehr ermöglicht es gerade die allen Ebenen inhärente „Information“, koevolutionäre Abhängigkeiten, Durchlässigkeiten und Gleichzeitigkeiten in den Blick zu nehmen. Friedrichs „Brille“ aber will eben in erster Linie die Konturen schärfen, wobei ironischerweise im Herausarbeiten von Distinktionen gerade die Arten und Weisen, wie die „Farben“ dennoch untrennbar ineinanderfließen, wie alles miteinander verwebt ist, etwas aus dem Blick gerät.
So wäre gleichsam von postrukturalistischer Seite her zu erinnern (von deren Vertretern im Anhang mindestens noch Lacan und Baudrillard fehlen), dass sich auch die Begriffe Wirklichkeit, Welt, Realität, Virtualität und Künstlichkeit eben nicht mehr so sauber voneinander scheiden lassen, bzw. dass sie vielfache Effekte (realexistierenden Fiktionalismus ;-)…) aufeinander haben, deren Ursprungsorte so gut wie nicht mehr auszumachen sind.
Ähnlich wie in Umberto Ecos Roman „Das Foucaultsche Pendel“ bleibt die Verteidigungslinie gegen die großen Gleichmacher Information und Fiktion also verdammt dünn, das Vorhaben ein zwar sympathischer, aber dennoch irgendwie auch: ein Windmühlenkampf; für eine notwendige und tiefer gehende, über die genannten Autoren hinaus gehende Theoriebildung jedenfalls, die nach neuen Handlungsspielräumen jenseits der Postmoderne/Posthistoire sucht, wären vielleicht, wie u.a. Steinweg oder Badiou es versuchen, die konstruktivistischen Paradoxien der Begriffe „Wahrheit“ und „Subjekt“ noch genauer in den Blick zu nehmen. Um die das Buch ja eigentlich die ganze Zeit kreist, kommen von diesen beiden schließlich die hauptsächlichen und notwendigen Positionsbestimmungen im Gewebe, aus denen dann Haltungen und Entscheidungen resultieren.

Aber das ist Korinthenkackerkritik, immerhin, ich sagte es schon, will das Buch eben erst einmal nur ein Fundament für die weitere Beschäftigung legen. Und dafür wird man viel Hilfreiches und Klärendes darin finden; ich verweise hierzu auf die Kritiken von Michael Blume und Mario Scheuermann. Friedrich hebt sich angenehm von manch blind-euphorischer Netzutopie und entsprechenden Sprechblasen/buzzwords ab, wie sie zahlreich aus dem angloamerikanischen Raum zu uns schwappen, setzt dem vielmehr einen nüchtern-analytischen Blick entgegen (wie ich selbst, so viel Eigenwerbung sei an dieser Stelle erlaubt, ihn von literarischer Seite her ähnlich auch für mich in Anspruch nehmen würde).
Dass überhaupt einmal jemand aus dem deutschsprachigen Raum sich auf sehr zugängliche Weise mit technikphilosophischen Fragen auseinandersetzt – und damit dennoch riskiert, von nur Wenigen gelesen zu werden -, dem allein gebührt schon Anerkennung. In jedem Fall wird nach der Lektüre der Blick auf die Netze vielfach geschärft: man vor Spinnen wie Spinnereien früher gewarnt sein.
Allerdings muss man genau hinlesen, um des Autors, will ich meinen, grundsätzliche Sympathie für die neuen, tastenden Politikversuche in postdemokratischen Zeiten unter all den vom ihm selbst aufgestellten Warnschildern noch wahrzunehmen. So wird zwar zu Recht auf die notwendige Leiblichkeit verwiesen, die für wirkliches politisches Handeln zwangsläufig notwendig werden muss, soll das Anliegen nicht bloß eben dies: virtuell nämlich bleiben. Doch kann man die Friedrichschen Begrifflichkeiten auch dazu verwenden, deutlich zu machen, worin die anzuerkennende Leistung der Occupy-Bewegung erst einmal nur besteht: Nämlich unter dem hohen Abstraktionsgrad und dichtem Netz unserer heutigen unwirklichen Welt(en) auf der nach wie vor existenten wilden Realität zu insistieren und diese damit erst einmal überhaupt wieder im Diskurs sichtbar zu halten. Blickt man auf Occupy allein aus der Perspektive der Revolte, werden einem zu Recht vor allem ihre diesbezüglichen Mängel auffallen. Dabei geht es ihr, meine ich, ähnlich wie Friedrich erstmal eben nur um das Aufsetzen einer anderen Brille: zur Ermöglichung anderer Konsequenzen und Handlungen. Das ist in heutigen Zeiten nicht wenig. Darauf ausruhen indes sollte man sich nicht.


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3 Antworten zu „Kritik der „Kritik der vernetzten Vernunft““

  1. Und dass ein seit 200 Jahren toter Philosoph für die Analyse eines großtechnischen und sozialen Systems im 21. Jahrhundert nur noch sehr beschränkt geeignet ist, kommt Dir nicht in den Sinn, oder?

    Die Behauptung, aus dem englischen Sprachraum käme plumpe Netzeuphorie zu uns, ist übrigens einfach falsch. Das ist schlicht Dein eigenes Wahrnehmungsproblem. Ich habe mich mal einige Tage hingesetzt und einen Überblick über englische Netzliteratur erarbeitet. Die Euphorie ist ein Klischee. Schon seit 1994 gibt es eine riesige Menge gründlicher und kritischer Auseinandersetzungen mit dem Netz – die Friedrich aber offenbar alle nicht kennt.

    Friedrich trägt mit Verve alte Hüte vor und auch Rezensenten täte es gut, den Blick schärfer zu stellen: Technikphilosophisch hat Friedrich nämlich gar nichts beigetragen. Wenn es schon Technikphilosophie sein soll, dann frage ich mich, wieso Friedrich mit keinem Wort den Gottvater der deutschen Technikphilosophie (Hubig) erwähnt. Sollte es spezifisch eine Technikphilosophie für das Netz sein, so ist die Diagnose, dass es hier zu wenig gibt, zwar richtig, aber dennoch ignoriert Friedrich völlig, dass hier seit Jahren Diskussionen stattfinden – aber eben ohne spätkantianisches Geschwurbel. Es ist meiner Erfahrung nach recht sinnlos mit Friedrich zu diskutieren, aber wenn Du Interesse an sowas hast, dann schau mal in die recht neuen Bücher von Kaminski (Technik als Erwartung) und Becker (Black box Computer) rein. Alpsancars Buch zu UbiCom kenne ich leider bisher nur in Auszügen als Manuskript, da es noch immer nicht erschienen ist. Ansonsten kannst Du Dich aus medien- und kulturtheoretischer Ecke mit klugen Gedanken zum Netz totschmeißen – und die haben auch alle mehr zur „Netzphilosophie“ beigetragen als Friedrich.

    1. Nun ja, ich denke, ich habe deutlich gemacht, was das Buch leistet / leisten will und was nicht; auch wenn man bedenkt, dass Friedrich eben gerade nicht aus der „medien- und kulturtheoretischen“ Ecke kommt und sich auch nicht unbedingt an ein akademisches Publikum wendet (anders als z.B. Manfred Faßler, der sich unter einer meiner Links in der Kritik versteckt). Das es sicher auch eine Menge differenzierte Auseinandersetzung mit dem Internet aus dem englischsprachigen Raum gibt, wollte ich mit meiner Pauschalaussage nicht in Abrede gestellt haben. Ich selbst kenne davon aber in der Tat nur wenige (wie z.B. Arthur Kroker) und bezog mich eher eben auf das, was hier bei uns davon mehr in der Breite noch wahrgenommen oder weitervermittelt wird. Aber ich habe da in der Tat wahrscheinlich auch ein Wahrnehmungsproblem, weil ich mich zur Recherche für mein „Haus der Halluzinationen“ eben viel in die euphorischen Position hauptsächlich der 90er, den Transhumanismus etc. eingelesen habe.
      Wobei ich mich gerade ernsthaft frage, ob hierzulande vielleicht auch eine merkwürdig-dialektische Allianz zwischen der dem Netz gegenüber eher „konservativen“ breiten Masse (aua, jetzt verallgemeinere ich schon wieder, muss wohl an Günther Jauch gestern liegen …) und den Netizens existiert, die als Reaktion entsprechend dann eher die „euphorischen“ Positionen nach vorne puschen. Womit ein Stellungskrieg der Extrempositionen entsteht, bei dem die Differenziertheit auf der Strecke bliebt. Insofern würde ich sagen, leistet Friedrich schon einen Beitrag, indem er eine Art Mittelweg versucht; vielleicht aber wirklich mit der Schwäche, dabei zu wenig schon Existierendes zu berücksichtigen.
      Aber ich würde auch nie von mir behaupten, Experte auf dem Gebiet zu sein – ich habe ja deutlich gemacht, dass ich wiederum eher vonseiten der Kunst/Literatur her auf das Thema blicke. Wenn du in die Sekundärliste hier: https://www.complifiction.net/corpus-callosum/ (speziell eben unter dem „Haus der Halluzinationen“) reinguckst, hast du einen groben Überblick über das, was ich dazu in etwa kenne.
      Technikphilosophie ist die Friedrichsche in der Tat eigentlich eher nicht, stimmt, das behauptet er aber (meines Wissens) auch nicht, im Buch jedenfalls nicht. Das ist ein Mißformulierung von mir: viel eher handelt es sich ja sozusagen um Erkenntnisphilosophie und Ethik. Daher natürlich auch der Kant. Dass mit dem allein der heutigen Situation nicht beizukommen ist, steckt ja in meiner Kritik an den aus meiner Sicht ziemlich vernachlässigten postmodernen/poststrukturalen Perspektiven mit drin. Und wie ich ja ausführe: Ein Theorie, die darüber noch hinaus geht, ist das gewiß erst recht nicht. Dennoch halte ich es nicht für uninteressant gerade angesichts „neuer“ Probleme gelegentlich auch mal auf „alte“ Sichtweisen zurückzugreifen. Einfach um einen anderen Abstand zum Objekt zu kriegen. Das leistet das Buch schon.
      Wer das braucht, ist eine andere Frage; die Irritation über das Zielpublikum ist ja nicht unberechtigt.
      Was deine Lektürehinweise angeht: Kaminskis „Technik als Erwartung“ hatte ich schon im Visier, kam nur noch nicht zum reinlesen; die anderen Sachen kenne ich in der Tat nicht, danke dafür, dem werde ich nachgehen! Und deine Liste zur englischen Netzliteratur würde mich auch interessieren, wo kann ich die finden?

  2. Lieber Kai Denker, „Es ist meiner Erfahrung nach recht sinnlos mit Friedrich zu diskutieren“ -ich wüsste nicht, dass Sie das bisher versucht hätten. Auch hier tragen Sie nur abstrakte Vorwürfe vor, anstatt einmal eine meiner Ausführungen konkret zu kritisieren, so wie es Steffen Lars Popp getan hat – und Sie können sich in meiner Antwort auf der Homepage des Buchs ein Bild davon machen, wie ich darauf reagiere. Mit Ihren bisherigen Äußerungen geben Sie mir jedoch leider keine Gelegenheit zur konkreten Stellungnahme.

    Ich will es dennoch versuchen, ein paar Dinge zu erläutern: Sie vermuten, dass ein seit 200 Jahren toter Philosoph zu den heutigen Debatten nichts beitragen könnte. Da bin ich ganz anderer Meinung. Sicher kennen Sie das berühmte Whitehead-Zitat: „Die sicherste allgemeine Charakterisierung der philosophischen Tradition Europas lautet, daß sie aus einer Reihe von Fußnoten zu Platon besteht.“ – und Platon ist sicher schon eine Weile länger tot als 200 Jahre – trotzdem ist es philosophisch sinnvoll, bei ihm anzusetzen. Das Interessante ist ja dann gerade, dass sich in einer etwas distanzierten Reflexionshaltung zeigt, dass manches gar nicht so neu ist, und das wirft auf das aktuelle Geschehen ein ganz neues Licht. Lesen Sie einmal in aller Ruhe Heideggers Aufsatz „Die Zeit des Weltbildes“ – der hat ja auch schon ein paar Tage auf dem Buckel – dann verstehen sie vielleicht, was ich meine. Ich vermute allerdings, da Sie ja Technikphilosophie betreiben, kennen Sie den Text, genauso wie „Die Frage nach der Technik“.
    Da Sie aber von „Diskussionen ohne spätkantianisches Geschwurbel“ schreiben fürchte ich, dass Sie den Heidegger nicht gern zur Hand nehmen. Für den Fall, dass diese Befürchtung richtig ist, kann ich Ihnen nur sagen, dass das sehr schade ist, denn gerade wenn man – wie Sie ja anderenorts geschrieben haben – in deutlich tiefere Tiefen gelangen will als sie etwa in einer Diskussion von Precht und Hüther erreicht wird, sollte man sich mit solchen Denkern auch beschäftigen.

    Aber ich spekuliere und bitte um Entschuldigung, denn ich weiß ja gar nichts von Ihnen. Ich möchte lieber noch erläutern, warum ich das Buch gerade so und nicht anders geschrieben habe. Ich glaube, dass Philosophie – gerade wenn sie den alltäglichen Lebensbereich der Menschen betrifft – so geschrieben sein muss, dass sie von „Nicht-Philosophen“ verstanden wird, und zwar von Anfang an und nicht erst im Nachhinein. Denn die wichtigste Erkenntnisquelle des Philosophen sind dann doch nicht die alten Bücher, sondern die Reaktionen, Antworten und Nachfragen, derer, um die es in der Philosophie geht. Wenn ich in Arbeitskreisen an der Uni über Putnam, Davidson und Quine oder Husserl oder Kuhn und Fleck diskutiere, dann bin ich in einem kleinen hermetischen Zirkel, das macht Spaß und ist erhellend, aber es hat keine Wirkung, es ist ein Spiel. Sicherlich ist es notwendig, es ist auch meine Basis für alles, was darüber hinaus durch meinen Kopf geht. Es ist wie Grundlagenforschung. Wenn es aber um Politisches und Technisches geht, dann will ich wissen, was „Nicht-Philosophen“ denken, ob sie mit dem, was ich schreibe, etwas anfangen können. Also werde ich sie nicht mit Begriffssystemen und Fußnoten und Textverweisen von meinem eigentlichen Punkt ablenken. Ich will nicht nur mit anderen Philosophen diskutieren, sondern mit den Leuten, die Politik machen und so unsicher sind, wie ich. Die sollen mich problemlos verstehen können. Ob Sie, lieber Kai Denker, mich verstehen, ist mir – vergeben Sie mir das bitte – herzlich egal.